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Dieser Text ist sehr lang geworden, sorry.

Gestern kam alles wieder hoch.
Obwohl es gar nicht so weit weg war, weil ich ja zurzeit ohnehin die EMDR-Therapie gegen die Zahnarztphobie mache…

Ich habe gestern den Beschluss gefasst, meine Geschichte zu erzählen. Denn wieder einmal ist mir klar geworden, dass die Hemmschwelle sinken muss, wir müssen drüber reden, miteinander, mit Betroffenen, mit Gesunden, das Thema muss in die Mitte, da wo es am Hellsten ist. Denn es ist unter Umständen eine tödliche Krankheit, die JEDEN von uns treffen kann. Jeden? Ja, jeden. Das zu behaupten darf ich mir nach 6 Jahren Arbeit bei der Telefonseelsorge anmaßen.

Meine Geschichte:
Also, ich will Euch erzählen, von meinen bisherigen 39 Jahren.

Die ersten Anzeichen
Das erste Mal, dass etwas nicht mit mir stimmte, merkte ich zu Grundschulzeiten. Ich habe noch die Kommentare im Ohr, wenn ich ein Geburtstagsgeschenk auspackte: „Jetzt freu Dich doch mal.“ „Lach doch mal.“
Und ich erinnere mich an Gespräche mit meiner Mutter, die mich bat: „Jetzt sag doch mal, was DU willst.“ „Entscheid Dich doch mal.“
Ich konnte das nicht. Ich funktionierte also nicht, weshalb ich vor 30 Jahren meine erste Therapieerfahrung im Rahmen einer Musiktherapie machen durfte. Ich hab es gehasst. Ich sollte „aus mir rausgehen“, auf die Trommel einschlagen, Notenfolgen am Klavier nachspielen, singen etc. Ich erinnere mich nur noch rudimentär. Aber ganz genau an das Gefühl völliger Ablehnung dieser „Nachmittage“, die in der unglaublich stimmungsvollen Kinderpsychiatrie passierten. Ich glaube, man hat vor 30 Jahren nicht gewusst, dass bereits Kinder Depressionen haben können, haben dürfen.
Ich weiß nicht mehr viel darüber, ich glaube, die Therapie hat nichts bewirkt, ich weiß nur, dass ich lernte, zu schauspielern und den Clown zu geben. Meine Rolle war gefunden. Die vorlaute, unangepasste Entertainerin.

Meine weitere Schulkarriere war ein Desaster. Ich traute mir nichts zu, obwohl ich sehr schnell Sachverhalte erfasse, manches wirklich gut kann und gerne mache. Aber immer immer immer hing ein dunkler Schleier über mir. Nirgends gehörte ich richtig dazu, Freundschaften hatte ich, sie zu pflegen fiel mir schwer. Ich vergaß viel, ich fühlte wenig, ich lernte ungern, niemand konnte mich so recht motivieren.

Kurz vor knapp
Mit 17/18 kam ich an den absoluten Tiefpunkt, in dessen Folge ich wochenlang im Bett lag. Ich duschte nicht, ich aß nicht, wenn ich musste, saß ich erst mal eine Stunde auf der Bettkante, weil mir die Kraft fehlte, zur Toilette zu gehen. Ich lag im Bett und starrte die Wand an, der Fernseher lief rund um die Uhr oder gar nicht. Freitags- und Samstagsabends ging ich mit Freunden aus und ließ mir nichts anmerken. Ich hatte da allerdings einen ganzen Tag gebraucht, mich ausgehfertig zu machen, ein unglaublicher Kraftakt. Ebenso wie die Bemühungen, niemanden etwas merken zu lassen.
Danach lag ich wieder tagelang im Bett und stank vor mich hin. [Diese Erfahrung sorgt übrigens dafür, dass ich ungeduschte Sonntage nicht ausstehen kann. Ich muss immer duschen].
Irgendwann griff meine Mutter ein und durch, brachte mich zum Arzt, der mir lebensrettende Medikamente verschrieb. Leider verschlimmerten sie zunächst alle Symptome und ich war sehr kurz davor, doch aufzugeben. Heute sind die Medikamente Gott sei Dank viel verträglicher, aber vor 20 Jahren waren das wirkliche Hammer.

Eine Therapie brachte mich halbwegs wieder auf die Spur und ich konnte mein Leben wieder aufnehmen. Diese absolute Ausweglosigkeit hat mich sehr geängstigt und ich habe mir fest vorgenommen, es soweit nie wieder kommen zu lassen.  Ein paar Jahre ging es mir auch tatsächlich besser.

[Diese absolute Ausweglosigkeit ist auch das, was mich gestern an Hannes Posting am meisten berührte. Ich kenne sie, sie ist der Abgrund, in den auch ich fast zu lange geschaut habe.
Auch besonders erschüttert hat mich die Tatsache, dass der Junior und das Mademoisellchen nun ohne Vater groß werden. Das Mademoisellchen ist so alt wie der Keks. Mir bricht immer noch bei dem Gedanken eine Ecke aus dem Herzen.]

Ein weiterer Tiefpunkt
Vor 11 Jahren wurde ein Tumor an meiner Ohrspeicheldrüse operativ entfernt und man konnte erst nach bzw. per Schnellbiopsie während der OP feststellen, ob er gut- oder bösartig ist. Also musste ich mich vor der OP mit den diversen Optionen auseinandersetzen, die möglicherweise im Anschluss bevorstehen.
Die OP ist gut verlaufen, der Tumor war nicht bösartig und die verbliebenen Nervenschäden schränken mich nicht weitgehend ein.
Aber – ich versuch es diplomatisch – mein Umfeld hat in der Situation nicht sonderlich hilfreich agiert und es endete für mich in einem Zusammenbruch. Ich brauchte wieder eine Therapie, um für mich ordnen zu können, was da eigentlich passiert ist und warum die Menschen so sind, wie sie sind… ich brauchte ein paar Sitzungen, aber keine Medikamente. Ich habe aber immerhin auch festgestellt, dass ich nicht mehr „ganz unten“ landen möchte und habe mir schnell wieder aus dem Tief heraushelfen können. Das war trotz Kummer und Schmerz ein sehr hilfreiches, heilsames Erlebnis: Ich gebe nicht auf, ich gehe dem nicht nach. Ich kann es schaffen, die Dämonen zurückzudrängen.

Zahnarztphobie – EMDR
Seit ich Mutter bin, übernehme ich noch viel mehr Verantwortung für mich und natürlich für den Keks. So will ich ihr zum Beispiel ein gutes Vorbild sein, so dass ich mich ‚genötigt‘ sah, meine Zahnarztphobie behandeln zu lassen. Denn nackte Panik ist eben kein gutes Vorbild. Im Rahmen der – noch andauernden – Therapie kamen ein paar Schlüsselerlebnisse zum Vorschein. Mir sind die berühmten Schuppen von den Augen gefallen und ich habe ENDLICH verstanden, was genau der rote Faden, der Auslöser von allem ist: Das Verlassen werden, das Alleingelassen werden, dass Zurück- und sich selbst überlassen werden. ES WAR SO BEFREIEND! Endlich, mit 39 Jahren habe ich VERSTANDEN, was mich seit meiner Kindheit quält. Ich verstehe, warum ich so denke, fühle, handle, wie ich es eben tue. Ich habe es jetzt in der Hand, um es loszulassen. Ich bin frei, ich bin befreit. Ich werde ganz gesund an der Seele.

(Und dennoch hier – als Einschub – das, was ich immer über meine Depressionen sage: Sie sind ein Teil von mir, so wie bei einem trockenen Alkoholiker die Krankheit immer ein Teil von ihm ist).

Heute
Ich stehe heute an einem Punkt, an dem ich mich selbst vor 10 Jahren nicht gesehen hätte. Ich habe die – mutmaßlich – erste Hälfte meines Lebens mit Schmerz, Kummer und Dämonen gekämpft. Ich mache die zweite Hälfte zur besten Zeit meines Lebens. Jeden Tag aufs Neue.

Dieser Text ist doch lang geworden, deshalb möchte ich die Tipps, die ich nach meinem Empfinden als hilfreich empfand, lieber gesondert verbloggen. Beides wird gleichzeitig online gehen.

Danke, dass Du das vielleicht sogar bis zum Ende gelesen hast. Das ist der persönlichste Beitrag, den ich bisher geschrieben habe. Ich bitte Dich, achtsam hiermit umzugehen.